In den Jahren nach 1933 (und vereinzelt auch schon davor) setzte eine durch den Nationalsozialismus erzwungene Emigrationsbewegung ein, die nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa umfasste. Sie betraf neben politischen Gegnern vor allem die jüdischen Bürger Deutschlands und der besetzten Staaten. Für die Wissenschaftsgeschichte waren ihre Folgen ohne Beispiel. Eine der besonders stark betroffenen Disziplinen war die Mathematik. In Deutschland verloren viele jüdische Mathematiker schon 1933 oder kurz danach ihre Arbeitsmöglichkeiten. Wenige Jahre später war auch ihr Leben bedroht. Aber auch in anderen Staaten Europas waren sie nicht lange sicher. Hatten sie in einem der später von Deutschland besetzten Länder Aufnahme gefunden, so folgte der ersten Flucht in aller Regel eine zweite. Misslang die Flucht oder kam es – aus welchen Gründen auch immer – nicht zur Emigration, drohte in Deutschland und den besetzten Staaten Verhaftung und Tod. In den Aufnahmeländern gelang manchen Geflohenen eine bemerkenswerte neue Karriere, andere dagegen litten ihr Leben lang unter den Verlusten der Vertreibung.
In den Jahrzehnten vor ihrer Vertreibung waren diese Mathematiker dagegen ebenso wie jüdische Mathematiker der vorhergehenden Generationen ein bedeutender Teil der Welt der Mathematik geworden. Der „Aufstieg durch Bildung“, der jüdisches Leben im 19. und frühen 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum maßgeblich charakterisierte, gelang auch – und in erheblichem Maße – in der Mathematik. Diese Ausstellung möchte zeigen, in welch beeindruckender fachlichen wie professionellen Breite jüdische Mathematiker seit dem 19. Jahrhundert und bis zu ihrer Vertreibung ab 1933 die mathematische Kultur in den deutschen Staaten mittrugen. Diesem Ziel entsprechend liegt der Akzent der Ausstellung nicht auf den Vertreibungen und Verfolgungen selbst, die in vielen Aspekten recht gut erforscht sind und bereits während des Internationalen Mathematiker-Kongresses im Jahr 1998 in Berlin Gegenstand einer Ausstellung waren. Zwar kann an die Tätigkeit der jüdischen Mathematikerinnen und Mathematiker nicht erinnert werden, ohne die späteren Schicksale vieler Beteiligter ins Bewusstsein zu rufen, und ebenso wäre es fragwürdig, sich die akademischen Erfolge des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen, ohne auf die frühere, Jahrhunderte währende Ausgrenzung jüdischer Bürger hinzuweisen. Dennoch sollen hier vor allem die Zeugnisse eben jenes Zeitraums nach der rechtlichen Gleichstellung jüdischer Bürger und vor 1933 zur Sprache kommen, in welchem jüdischen Mathematikerinnen und Mathematikern im deutschsprachigen Raum die bedeutendsten Erfolge gelangen. Aus pragmatischen Gründen konzentriert sich die Ausstellung dabei auf die deutschen Staaten; vieles könnte für die Schweiz und Österreich hinzugefügt werden.
Der Ausstellung wurde bewusst der vage Begriff des „Jüdischen“ zugrunde gelegt, wie er auch in den Jewish Studies üblich ist, um in der schwierigen Frage „Wer ist Jude?“ unabhängiger von Fremd- und Eigenzuschreibungen zu sein.
Vor allem zwei Punkte werden in der Beschäftigung mit dem Thema der Ausstellung deutlich, sobald man sich diesem nicht selektiv, sondern in umfassender Perspektive nähert. Erstens gab es im hier behandelten Zeitraum wahrscheinlich keinen Bereich der akademischen Kultur der Mathematik, in welchem jüdische Mathematiker nicht tätig waren. Von der Forschung und Lehre über die Mitwirkung im Publikationswesen und in Professionsorganisationen wie der DMV bis hin zum öffentlichen Diskurs über die Mathematik wirkten sie in Kaiserreich und Weimarer Republik Seite an Seite mit ihren nichtjüdischen Kollegen. Wie diese und gemeinsam mit ihnen prägten sie die deutschsprachige mathematische Kultur ihrer Zeit. Und zweitens war diese Aktivität so vielfältig und unterschiedlich, dass jedes damalige (oder auch heutige) Klischee, das jüdischen Mathematikern einen irgendwie gearteten besonderen Charakter in der Mathematik ihrer Zeit zuspricht, rasch widerlegt wird. Das Verbrechen der Vertreibung und Verfolgung jüdischer Kolleginnen und Kollegen wird angesichts dieser Befunde nicht geringer oder größer, aber um so offensichtlicher.